Der gesenkte Blick

"Der gesenkte Blick"
Die Bilder von Rainer Bauer
Eine Betrachtung von JAKOB MÖHRING

Eine der wesentlichsten Fragen, über die ich in meinen Überlegungen immer wieder stolpere, ist bislang ungeklärt, und wird es wohl bleiben müssen: die Frage nämlich, wo Malerei - Kunst überhaupt sowie alles Visuelle und Wahrnehmbare - existiert. Ohne eine erkennende Wahrnehmung bliebe die Welt leer. Ich bin es, der sie mit Farben, Empfindung und Stimmung füllt.

 

 

Ginge e§ nur um mich, könnte mir das egal sein; es wäre ja meine Welt. Aber ich bin nicht allein, und es ist sogar meine Überzeugung, dass der Mensch an sich niemals alleine sein kann. Weil er sich nicht als den Einzigen denken dann, existiert auch immer der Andere, ein Gegenüber, der in Frage stellt, der das eigene Rufen auffängt und antwortet. Die Erfahrung eines Gegenübers und das latente Wissen um die Anwesenheit von anderen ist einer der grundlegendsten Wesenszüge des Menschen.
An dieses verborgene Wissen muss ich denken, wenn ich die Bilder von Rainer Bauer betrachte. Das mag zunächst verwundern, suggerieren die Motive doch in erster Linie etwas anderes: Gestrüpp am Ufer, seichtes und Wellen gefurchtes Wasser, geheimnisvolle Landschaften in unwirklichem Licht oder leichtem Nebel und immer wieder die bizarren Konturen von fremdartigen Pflanzen und totem Geäst - Paradebeispiele eigentlich für ein entlegenes und einsames Szenario der Abgeschiedenheit und Ruhe. Und dennoch will es mir nicht gelingen, die

verborgene Anwesenheit von Menschen wegzudenken. Diese Bilder sind nicht leer, sondern verlassen. Am deutlichsten wird dies bei einem der frühesten Motive, die in der Malerei von Rainer Bauer zu finden sind: Reifenspuren im Morast.
Die Menschen sind in ihrer Abwesenheit gegenwärtig; durch ihren Abdruck verraten sie sich. Reifenspuren sind eindeutige Zeichen, daß ich nicht allein bin, eine Straße, ein Gatter oder Laternen ebenfalls, und selbst die scheinbar unberührte Natur offenbart im Detail diejenigen, die einmal anwesend gewesen und ihre Spuren hinterlassen haben: regelmäßige Ackerfurchen, geschnittene Strünke - an den gekappten Ästen zerplatzt die scheinbar romantische Idylle. Die Natur in den Bildern von Rainer Bauer ist nicht unberührt, auch für sie gilt: sie ist verlassen worden, liegen gelassen - vielleicht vergessen.
Vergessen worden, bis ich sie sehe. Genau das ist es, was passiert und zwar ausschließlich: ich sehe - nicht das Bild, sondern das, was in dem Bild zu sehen ist, als wäre es kein Bild auf einer Leinwand, sondern das, was ich, wenn ich sehe, wahrnehme. Die Bilder von Rainer Bauer lassen sich nicht betreten, ich stehe außen vor - oder mittendrin, wie in der Welt, die mich umgibt und die ich immer aus der Entfernung meines Blickes, also aus mir heraus betrachten muß. Zum einen ist es  dies, dass der Raum nicht nachgibt, zum anderen existiert aber auch keine Zeit in ihnen, sie lassen mir nicht nur keinen Raum, sondern auch keine Zeit, mich in ihnen zu bewegen - keinen Zeitraum. Würde ich dennoch einen Schritt auf sie zu und in sie hinein gehen wollen, im selben Augenblick würde ich sie in gleichbleibender Distanz vor mir herschieben, und sie wären ein anderes Bild. Sie sind das, was sie sind: der Augenblick, in dem ich sehe.
Was ich gesehen habe jedoch, wird der Zeit enthoben und dauert als Bild fort. Rainer Bauer hingegen gelingt es, solche Bilder zu malen! Er stellt dar mit einem ausgewogenen Verhältnis zwischen Wirklichem und Unwirklichem, Nähe und Distanz, Licht und Dunkel, Detail und großzügiger malerischer Bewegung. Er verzichtet dabei auf jede inhaltliche Symbolik, die die Wahrnehmung irritiert und das, was ich sehe, in eine Aussage eines anderen verwandeln würde. Und so hat sich dann auch Rainer Bauer aus seinen fertigen Bildern zurückgezogen, überlässt mir das Feld zur Spurensuche. Doch zuletzt entdecke ich auch den Abdruck, den Rainer Bauer hinterlassen hat, die Hohlform, in der sich seine Anwesenheit offenbart: Es ist die Perspektive, die Perspektive eines gesenkten Blickes, in die der Maler den Betrachter zwingt. Durch sie verschließt sich der Raum
und wird das gemalte Bild zum Augen-Blick. Auf diesem Moment, so glaube ich, beruht zu einem großen Teil die geheimnisvolle und einzigartige  Wirkung der Bilder von Rainer Bauer. Und in diesem gesenkten Blick, der nicht mein Blick ist, mit dem ich aber sehe, tritt der andere, der nicht ich bin, auf mich zu….

Berlin, Januar 1999


Einführung in die Ausstellung Rainer Bauer „Malerei“ in der Kreishaus-Galerie Bergheim am 5.11.2017

Es ist gerade eine Woche her, dass wiederum ein Sturmtief über Deutschland gewütet hat. Die Bilder von entwurzelten Bäumen, die sich über Hausdächer, Straßen und Schienen gelegt haben, haben wir noch nicht vergessen.
Auch auf manch einem Gemälde von Rainer Bauer deutet sich Bedrohliches an, wenn sich etwa dunkle Wolken am Himmel zusammenballen.
Nichts Gutes verheißt der Blick auf die Terrasse eines Ausflugslokals. Die Gäste haben die Tische bereits verlassen, weil ganz offensichtlich ein Gewitter im Anzug ist. Ein Teil der Sonnenschirme aber ist noch geöffnet.
Rainer Bauer hat hier in einem Gemälde, dem er den Titel „Schirmherrschaft“ gegeben hat, einen Zeitpunkt eingefroren, in dem die Stimmung kippt – eben noch heitere Sommerlaune, dann die plötzliche Furcht vor einem Unwetter.
Dass er Momente des Unwirklichen eingebaut hat, sehen wir erst bei genauer Betrachtung. Der Boden scheint bereits zu schwimmen, die kleinen Tannenbäume haben auf der Terrasse eigentlich nichts zu suchen, und dass ein zusammengeklappter und ein geöffneter Sonnenschirm eine Kreuzform bilden, ist wohl kaum ein Zufall.
Rainer Bauer, von dessen Gemälden wir hier umgeben sind, hat sich seit einigen Jahren der Landschaftsmalerei verschrieben und gewinnt ihr seitdem immer neue, überraschende Seiten ab.
Bei der Komposition von landschaftlichen Szenerien greift er auf gezeichnete oder fotografierte Versatzstücke zurück, die auf der Leinwand frei miteinander kombiniert werden. Dabei fokussiert er sich häufig auf einen kleinen, aber prägnanten Ausschnitt.
Bei der Betrachtung mag dem ein oder anderen Kunstfreund Albrecht Dürer in den Sinn kommen, der 1503 ein schlichtes Stück Wiese mit Gräsern, Wiesenblumen und Kräutern ins Bild gesetzt hat und damit eine der berühmtesten Naturstudien der Kunstgeschichte überhaupt geschaffen hat. Bei Rainer Bauer geht es - anders als bei Dürers „Rasenstück“ - nicht um botanische Genauigkeit. Und er präsentiert uns auch keine Idyllen, wie wir auf den ersten Blick erkennen.
Er eröffnet vielmehr mit großer künstlerischer Souveränität wildwuchernde, unwirtliche Bildräume. Stacheliges Gestrüpp, abgestorbene Bäume, dunkle Tümpel und eine grünlich-braune Farbpalette verstärken zusammen mit unwirklichem Licht oder leichtem Nebel den Eindruck des Magischen, das eine starke Anziehungskraft auf uns ausübt.
Rainer Bauer selbst spricht sehr zutreffend von „Interieurs der Natur“, wenn er etwa Waldschneisen oder Bäche als großformatige Detailaufnahmen auf die Leinwand bannt.
Spiegelnde Wasseroberflächen treten auf vielen Bildern auf. Was sich in dunkler Tiefe darunter befindet, wollen wir lieber nicht wissen. So öde und verlassen die Natur auch erscheinen mag, so sind bei genauer Betrachtung doch häufig Spuren menschlicher Eingriffe sichtbar.
„Wie in der Kriminalistik setze ich Indizien zu einem Mosaik zusammen, die sich dem Betrachter erst nach und nach öffnen“, beschreibt der Künstler selbst treffsicher seine Arbeitsweise.
Ein gutes Beispiel ist das Bild „Alter Steg“, bei man die bemoosten Holzplanken allerdings kaum wahrnimmt, weil sie nahezu mit der umgebenden Vegetation verschmelzen.
Auch das Bild mit den Segelbooten ist ein Beleg dafür, dass Rainer Bauer keine mythologischen Landschaften malt, wie er ausdrücklich betont. Die Anwesenheit von Menschen ist immer spürbar - und in einer so dicht besiedelten Gegend wie der unseren ist es ja ohnehin pure Illusion zu glauben, man sei der erste an einem Ort.
Die Natur auf Rainer Bauers Gemälden wirkt gleichermaßen verlassen wie vernachlässigt. In Wechselspiel zwischen Wirklichem und Unwirklichem, Nähe und Distanz, Licht und Dunkel, Detailmalerei und großzügigem Gestus, Schärfe und Unschärfe entstehen sicher komponierte Naturszenarien von zumeist melancholischer Ausstrahlung.
Die atmosphärische Gestimmtheit wird zum eigentlichen Bildinhalt. 
Naturbetrachtung, Naturerlebnis und Naturerinnerung sind Ausgangspunkt für den Bildgegenstand, der sich während des Malakts immer weiter verselbständigt und ausschnitthaft verengt.
„Abstraktion ist für mich kein Ziel, sondern eine notwendige Konsequenz der Arbeit mit Erinnerungsspuren“, sagt Rainer Bauer selbst.
In seiner Malerei vereinen sich Konstruktion und Intuition, Sichtbarmachung und Verschleierung in einer Weise, die jedem von uns gedankliche Spielräume ermöglicht.
Dass der Künstler häufig den Blick nach unten richtet, haben Sie selbst bereits gemerkt, weil Sie zwangsläufig seiner Sichtposition gefolgt sind. Allen Exponaten gemeinsam ist das eigentümliche Licht. Die Dynamik von Licht und Schatten sorgt für Spannung im Bild, eine bisweilen bühnenhafte Ausleuchtung verleiht manch einem Gemälde etwas Entrücktes.

Eine weitere Werkgruppe stellen die Wolkenbilder und die Landschaftspanoramen dar. Wir als Betrachter sind von dem Anblick der großartigen, wuchtigen Himmelsprospekte nahezu berauscht.
Imposante Wolkenmassen türmen sich auf und in der Wiedergabe dieser flüchtigen Naturerscheinungen offenbart sich Rainer Bauers langjährige Erfahrung im Umgang mit dem Motiv und seiner technischen Umsetzung.
Die kraftvolle Malweise legt die vorsichtige Vermutung nahe, dass der Künstler unter dem Eindruck der Wetterphänomene eigene Befindlichkeiten durchlebt.
Ob es stimmt, verrät er vielleicht anschließend. Eine nahezu barocke Dramatik geht von dem Bild mit den gespenstischen Lichtfeldern aus, bei dem unzählige Farbschichten die Oberfläche in Aufruhr versetzen.

Schönheit und Gefährdung der Natur werden uns in dieser Ausstellung gleichermaßen eindrucksvoll und subtil vor Augen geführt.
Weil die romantischen Landschaftsempfindungen gebrochen werden, kommt Rainer Bauer mit seinem Schaffen mitten in unserer Zeit an.
Ihnen wünsche ich nun beim Rundgang Entdeckerfreuden. Machen Sie sich mit detektivischem Spürsinn auf den Weg, folgen Sie den Fährten, die der Künstler gelegt hat und tauchen Sie in die Naturvorgänge ein, die auf der Leinwand erlebbar werden.

Hanna Styrie, im November 2017